KunstWerk des Monats September 2008

Andreas Jaeggi 19900101

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Dieses Bild zeigt eine stilisierte Fassung von Frau Dr. med. Katharina Euler Obolensky, meiner Schlummermutter und Mentorin aus der Studienzeit an der Basler Kunstgewerbeschule und anschliessend am Internationalen Opernstudio Zuerich. Katia war eine direkte Nachkommin des Basler Mathematikers Leonhard Euler, der 1727 an den Zarenhof nach Sankt Petersburg berufen wurde. Sie selbst betonte jedoch mit schoener Regelmaessigkeit, dass nur achteinhalb Prozent reines Schweizer Blut in ihren Adern floss.

Keine Worte koennen beschreiben, mit welcher lebensbejahenden Intensitaet sie mich aus einer festgefahrenen Schweizer rechtschaffenen Biederheit herausgeschleudert hat: die Gespraeche mit ihr ueber Vergangenes ... angefangen von ihrer hollywoodfilmreifen Flucht vor den Bolscheviken zur Revolutionszeit  ... schon allein mein unentgeldliche Wohnen in ihrer Neun-Zimmer-Jugendstil-Wohnung ... die selbstgekochten, -gebackenen & -gebastelten Patientengeschenke, die allabendlich vor dem Nachtessen aus ihrer Arztpraxis ins Wohnzimmer angeschleppt wurden ... meine erste Reise nach New York zu ihrem aeltesten Sohn Lev, der damals den Fonds fuer die aermsten Laender der Vereinten Nationen betreute, und der Besuch einer Vorstellung am Broadway des eben aus der damaligen Sovietunion emigrierten Luftspringers Mikhail Baryshnikov ... das ununterbrochene Defilee von Familienangehoerigen aus der ganzen Welt:

Tante Mika aus Paris mit ihren ruckartigen Bewegungen und dem selbstgeschnittenen schneeweissen Haar, Tanta Walja aus Bamberg, die die perfektesten Pilmeni herstellen konnte, Fleischtaschen aus hauchduennstem Teig (frech "russische Ravioli" genannt, mit zerlassener Butter & Essig gegessen oder mit Sauerrahm & Pfeffer), die hoechstintelligente und aetherische Enkelin Alexandra aus Bogota, die dort mit Luis, einem waffenwuetigen MegaMachoGrossGrundBesitzer, verheiratet war ... dann war da noch die Haushalthilfe Friedel, schizophren und gewalttaetig, aber wie ein Haustier der Herrin bedingungs- & gnadenlos ergeben ...

Mit einem Mal wurde es mir zuviel und ich fuehlte mich in dieser katastrophendurchwachsenen LebensSpirale gefangen. Um mir einen Freiraum auf neuer Ebene zu schaffen entschloss ich mich, die Lebensgeschichte von Katia aufzuschreiben, so wie ich sie kannte. Ich schrieb mich mit einem (unveroeffentlichten) 800seitigen Roman, "Lydia Bucher", von ihr los. Eine Psychoanalyse waere teurer gewesen und bestimmt nicht wirkungsvoller.

Hier auf diesem Bild ist Katia scheinbar schlafend dargestellt auf dem falschen Barocksofa, mit den (urspruenglich) tief dunkelgruenen Charles Jourdan Schuhen hochgezogen. Als melancholische Nachnote sei erwaehnt, dass sie – die notorische Kettenraucherin & gierige Zeitungsleserin – vor nicht allzulanger Zeit mit 102 Jahren genug von allem hatte und eingeschlafen ist.